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  • nadinebaertschi

Über Zugehörigkeit, Ermutigung und das Gefühl des Minderwerts

Aktualisiert: 31. März 2023

Theo Schoenaker beschreibt den Begriff des Zugehörigkeitsgefühls in seinem Buch das Leben selbst Gestalten in einem tollen Satz: «Der Mensch ist ein soziales Wesen. Das Wichtigste, was er braucht um sein Potential einzusetzen, ist das Gefühl, dass er akzeptiert und gebraucht wird und mit anderen verbunden ist.»



Eine der Aussagen, welche mir in dem ersten Jahr an der Akademie für Individualpsychologie eingefahren ist: «Mensch sein heisst, sich Minderwertig fühlen.» Und es hat sich bewahrheitet. In allen meinen vielen Gesprächen mit Freunden, Bekannten, Arbeitskollegen und Familie hat sich gezeigt, irgendwoher kennen wir das Minderwertigkeitsgefühl alle. Nicht alle in derselben Situation, aber verschont davon bleibt niemand. Wie unglaublich toll dürfen wir lernen, durch Ermutigung das Zugehörigkeitsgefühl zu stärken, um somit unser volles Potential zu entfalten.


Weiter beschreibt Theo Schoenaker den Begriff des Zugehörigkeitsgefühls mit folgenden

Worten: «Fühlt sich ein Mensch zugehörig, erlebt er sich als gleichwertiger Partner, hat

Selbstvertrauen und sein Streben richtet sich darauf, zum Wohle der Gemeinschaft

beizutragen. Mit dem Gefühl der Zugehörigkeit erleben wir uns wertvoll und bedeutungsvoll

und wissen, dass es gut ist, dass es uns gibt. Wir erleben andere als unterstützend und als

eine Einladung, beizutragen. Wenn wir uns in der Partnerschaft zugehörig fühlen, können wir

lieben und das Beste geben, was wir sind und haben. Am Arbeitsplatz und in der Gesellschaft sind wir kreativ und kooperativ. Fühlen wir uns zugehörig, dann glauben wir an uns und unsere Möglichkeiten.»


In meinem Empfinden liegen das Minderwertigkeitsgefühl sowie das Zugehörigkeitsgefühl

ganz nahe beieinander. «Sich nicht als zugehörig zu empfinden, ist eines der

niederdrückendsten Gefühle, es erklärt uns, warum wir uns gut oder schlecht fühlen; warum

wir gute Zeiten erlebten, warum wir schlechte Zeiten hatten, auch wenn wir sonst alles

hatten.» «Wir können in den Momenten, wo wir uns Minderwertig fühlen erkennen, dass

wir glauben «ich bin so wie ich bin, nicht gut genug». Diese Gefühle geben wir uns selbst. So

erkennen wir, dass wir uns diese Gefühle der Minderwertigkeit selbst machen und sie nicht

in Wirklichkeit so sind.» (Theo Schoenaker – Das Leben selbst gestalten)

Und schon sind wir bei dem Satz angekommen, welcher für mich diese Ausbildung

symbolisiert und wohl einer der wichtigsten Sätze »Ich bin okay, und du bist okay.»

Vor etwas mehr als zwei Jahren habe ich angefangen, mich mit dem Thema der

Individualpsychologie auseinanderzusetzten. Der Lockdown hat gerade angefangen und ich

habe viele Stunden damit verbracht, Bücher über die Individualpsychologie zu lesen. Ich

habe mir ein Notizbuch, ein sogenanntes Wachstumsbuch zugetan, um meine Gedanken zu

notieren und beim Thema Fragen aus der Kindheit war mein erster notierter Satz: «Wo oder

wie erhalte ich die Bestätigung, dass ich dazu gehöre?»







Ich kann mich noch genau an den Moment erinnern. Ich sass mit meinen Eltern auf der

Terrasse und habe meine Gedanken vor mich her gesprochen und den Austausch gesucht.

Meine Mutter sagte in diesem Moment zu mir: «Du entscheidest selbst, wo du dazugehören

möchtest. Du brauchst nicht die Erlaubnis anderer, sie werden es dir schon zeigen, falls

deine Anwesenheit nicht erwünscht ist.» Dieser Satz, hat gerade mir als «Gemütliche»

unglaublich gutgetan, war ermutigend und einer der Startschüsse, weshalb ich mich für eine

Ausbildung in der Individualpsychologie entschieden habe.


Ich hatte, soweit ich zurückdenken kann als Kind etwas die Tendenz, besonders in den ersten

Schuljahren oder beim Kennenlernen von Freunden, dass ich die Bestätigung von aussen

einholen wollte, dass ich dazugehöre statt mir dies einfach selbst zuzugestehen, ein Teil

davon zu sein. In der Familie kann ich mich erinnern, dass ich sehr wohl wusste, dass ich ein

Teil davon bin, es tat jedoch trotzdem immer gut, dies zu hören. Ich wollte mir meinem Platz

sicher sein. Noch heute fühle ich dies teilweise und schätze Anerkennung sehr. Aber wenn

wir zu trennen lernen, zwischen dem, was das Kind von damals in uns bewirkt und dem, was

der Erwachsene, beziehungsweise der gesunde Menschenverstand in uns will, dann können

wir vieles aus einem neuen Blickwinkel betrachten. Und ich darf mir meinen Platz selbst

eingestehen.


Zugehörigkeit fängt schon in den ersten Lebenstagen an. Wie werde ich von meiner Familie

aufgenommen? Freuen sich andere über meine Anwesenheit? Bin ich gewollt, geliebt,

erhalte respektiv finde ich meinen Platz oder werde ich abgewiesen, erlebe ich die anderen

gleichgültig oder ambivalent?

Mich hat die Geschichte von Vincent van Gogh sehr berührt. Das erstgeborene Kind seiner

Eltern war eine Totgeburt. Genau ein Jahr später, am gleichen Tag kam er zur Welt und

erhielt den gleichen Namen, Vincent Willem van Gogh, wie auch sein verstorbener Bruder.

Vincent van Gogh hatte laut Erzählungen von Geburt an das Gefühl, ein Leben zu leben, das

gar nicht für ihn bestimmt war, hat sich selbst bei seinen Eltern als Ersatz für seinen

verstorbenen Bruder gesehen. Es erstaunt nicht, dass er wie sein Vater Kleriker werden

wollte, ihm das Theologiestudium jedoch zu schwer war. Er wie sein Onkel in der

Kunstgalerie arbeiten wollte, jedoch kein Verkaufstalent besass und ihn den Misserfolg hart

getroffen hat. 1880 wollte er dann Maler werden, um die Geschichten zu malen, die er

eigentlich als Prediger unters Volk bringen wollte. Seine Eltern hielten ihn für einen Versager

und glaubten nicht an seinen Erfolg. Vincent war zu seinen Lebzeiten nicht erfolgreich und

starb mit 37 durch einen Schuss in die Brust.


Wie Rudolf Dreikurs in dem Buch Grundbegriffe der Individualpsychologie schreibt: «Der

Zweifel an dem eigenen Wert und an den eigenen Fähigkeiten verhindern das Gefühl der

Zugehörigkeit. Und sobald ein Gefühl der Minderwertigkeit erweckt wird, ändert sich die

ganze Richtung des Lebens. Während sie normalerweise auf die Einordnung in die Gemeinschaft gerichtet ist, ändert sich die Bewegung unter dem Einfluss des Minderwertigkeitsgefühls. Statt der Bewegung auf der horizontalen Ebene zur Gemeinschaft

hin, bewegt man sich dann auf der vertikalen Ebene, um das Gefühl der Minderwertigkeit zu

überwinden. Nur dann glaubt man, einen Platz für sich zu haben.

Adler fand ein grundsätzliches Gesetz der Kompensation: wer das drückende Gefühl einer tatsächlichen oder angenommenen Minderwertigkeit durch Kompensation zu überwinden versucht, wird niemals zu einer Lösung kommen – er trägt den Zweifel an sich und an seinem Wert mit sich, gleichgültig wie hoch er steigen mag.»


Im Buch der Grundbegriffe der Individualpsychologie schreibt Rudolf Dreikurs: «Adler hat

ursprünglich angenommen, dass das Minderwertigkeitsgefühl die wichtigste Triebkraft des

Menschen sei. Er betrachtete das Leben als eine ständige Bewegung von unten nach oben,

von Minus zu Plus. Daher nahm er an, dass die Kompensation für das «natürliche»

Minderwertigkeitsgefühl immer zum Machtstreben führen müsse, welches als natürliches

Ziel aller Menschen anzusehen sei. In seiner letzten Phase erkannte Adler aber, dass der Wille zur Macht und das Streben nach persönlicher Geltung nicht als natürlich und

unerlässlich gelten müssen; sie bilden eine verfehlte Richtung und Motivation. Grundsätzlich

für den Menschen ist das Bedürfnis der Zugehörigkeit, wie es durch das Gemeinschaftsgefühl erlebt wird. Statt Minderwertigkeitsgefühle zu kompensieren, müssen wir lernen, sie zu überwinden, uns von ihnen zu befreien. Statt Geltungsstreben, statt des Ehrgeizes persönlicher Überlegenheit, der nur zu einem verstärkten Konkurrenzkampf führen kann, müssen wir das Streben nach Überwindung setzen, Überwindung von Mängeln und

Schwierigkeiten, in uns selbst, in unseren Mitmenschen und in der ganzen menschlichen

Gesellschaft.» Das kompensierende Streben nach persönlicher Überlegenheit ist weder

Gleichwertig noch auf Augenhöhe. «Gleichgültig, wieviel Erfolg man auf der vertikalen Ebene erreichen kann, man trägt das Gift des Zweifels an seinem eigenen Wert mit sich und kann daher den Vorteil seiner Errungenschaften nicht geniessen und keine Sicherheit darin

finden.»


Wie unglaublich wichtig ist es nach dieser Aussage, das Gefühl der Zugehörigkeit weiter zu

geben und sich selbst zugehörig zu fühlen. Auf einer Augenhöhe zu sein, das Gegenüber

wertzuschätzen. Die Sicherheit der Zugehörigkeit zu vermitteln, Fehler nicht so

wichtigmachen, und dass es zum Leben dazu gehört, sich ab und zu minderwertig zu fühlen.

Sich gegenseitig zu stärken und das volle Potential zu fördern. Wie? Durch das wunderbare

Tool der Ermutigung.


Hierzu möchte ich eine Geschichte erzählen von der Neun-Kuh-Frau nach Patricia McGerr:

«Es waren einmal zwei Freunde, die sich einen Traum erfüllen wollten, mit einer kleinen

Segelyacht die Erde zu umsegeln. Sie starteten guten Mutes und alles lief sehr gut. Von Zeit zu Zeit liefen sie Hafen oder kleinere Inseln an, um Wasser und Lebensmittel aufzunehmen. Als sie bereits viele Wochen unterwegs waren, kamen sie zu einem Eingeborenenstamm. Der

Empfang und die Gastfreundlichkeit waren so grossartig, dass die beiden entschieden ein paar Tage zu bleiben.

Einer der beiden Freunde wurde auf eine Frau aufmerksam und konnte seine Augen nicht

wieder von ihr abwenden, schnell war klar, dass die Sympathie beidseitig war. Der Mann hatte nur noch diese Frau im Kopf und schwärmte seinem Freund vor wie attraktiv und strahlend sie wäre, dass er nie eine schönere Frau gesehen hätte. Sein Freund verstand seine Faszination nicht und versuchte, ihn auch auf andere, noch schönere und wirkungsvollere Frauen aufmerksam zu machen, aber nichts funktionierte und schliesslich beschloss der Verliebte dieser Frau einen Heiratsantrag zu machen.

Nun war es bei dem Stamm der Eingeborenen üblich den Häuptling um die Hand einer Frau

aus dem Stamm zu bitten und den Brautpreis festzulegen. Je nach den Qualitäten der Frau

(Aussehen, Kochkünste, Wissen im Bereich Heilung, Fähigkeiten bei der Jagd, gebärfreudiges Becken, etc.) bewegte sich der Brautpreis zwischen einer Kuh für eine Frau mit wenig Qualitäten und 9 Kühen für einen Frau mit maximalen Qualitäten – der perfekten Frau schlechthin. Noch nie hatte es in der Stammesgeschichte diesen Brautpreis für eine Frau gegeben. Obwohl noch nie ein Fremder in den Stamm eingeheiratet hatte, willigte der

Häuptling in die Hochzeit ein und legte den Brautpreis auf drei Kühe fest.


Da sagte der Bräutigam: "Wie, nur drei Kühe, schau Dir diese Frau doch an. Sie ist auf jeden

Fall 9 Kühe wert. Ich zahle 9 Kühe." Das irritierte den Häuptling und er erklärte, weshalb die

Frau nur 3 Kühe wert ist. "Sie gehört nicht zu den schönsten im Dorf. Ihr Jagdgeschick lässt zu wünschen übrig und sie kann weder gut kochen noch ist sie sehr ordentlich." Doch der Werber blieb stur und sagte: "Meine zukünftige Frau ist 9 Kühe wert, und diese bezahle ich."

Die Hochzeit war ein rauschendes Fest und am Tag danach segelte der Freund weiter, mit dem Versprechen ein paar Jahre später wieder zu Besuch zu kommen. Wie versprochen, legte fünf Jahre später eine Yacht an dem Steg des kleinen Dorfes an und der Mann, der von Bord ging, war ganz aufgeregt seinen Freund wieder zutreffen. Die erste Frau, die er erblickte, war eine wunderschöne Frau mit einem kleinen Kind auf dem Arm. So strahlend und schön, viel attraktiver als jede andere Frau, die er je zuvor gesehen hatte.

Er fand seinen Freund, der ihn unter Jubel willkommen hiess und ihm ein köstliches Essen

vorsetzte. So gut hatte der Weltreisende noch nie gegessen. Das Fleisch war zart. Die Hütte

war wohnlich eingerichtet, stilvoll und versprühte eine heimelige Atmosphäre. Der Freund

erzählte, dass seine Frau die Königin der Jägerinnen ist und bald sein zweites Kind gebären

wird. "Du hast sie ja schon gesehen", sagte der Freund. "Unten am Steg." "Das war nicht deine Frau", sagte der Segler. Die Frau dort unten war die schönste Frau, die ich je gesehen habe." Und während er das sagte, kam sie zur Hütte und er erkannte sie voller Staunen und sagte zu ihr: "Aus dir ist wahrhaftig eine Neun-Kuh Frau geworden."

Sie lächelte ihr liebreizendes Lächeln und antwortete: "Mein Mann hat 9 Kühe für mich bezahlt und behandelt mich jeden Tag unseres gemeinsamen Lebens so grossartig, wie es nur eine 9-Kuh-Frau verdient. Also konnte ich gar nicht anders als mich in eine 9-Kuh-Frau zu verwandeln. Genau in die Frau, die er immer in mir sehen konnte.»


Theo Schoenaker beschreibt die Ermutigung in seinem Buch Mut tut gut mit folgenden

stärkenden Worten: «So ist der Prozess der Ermutigung zu definieren als jedes Zeichen der

Aufmerksamkeit, das anderen oder uns selbst Mut macht oder Auftrieb gibt. Das heisst auch: Ermutigung ist das, was als Ermutigung empfunden wird. Die Definition bezieht sich also auf das Ergebnis. Wenn ich Dich anschaue, berühre, ein gutes Wort der Anerkennung sage, Dichsein lasse, wie Du bist, Dich in Deinen eigenen Absichten bestärke oder Dich anlächle, und Du fühlst Dich dadurch besser, dann war das, was ich tat, eine Ermutigung für Dich. Ermutigung erwirkt in Dir eine Änderung der inneren Haltung. Ermutigung erhöht Dein Gefühl von Selbstachtung, stärkt den Glauben an Deine eigenen Fähigkeiten und führt Dich zum Schluss: So wie ich bin, bin ich gut genug und zu der Überzeugung: Ich kann!»


Ermutigung dient dazu, Minderwertigkeitsgefühle zu beseitigen und ein stärkeres Gefühl der

Zugehörigkeit zu entwickeln und so unser volles Potential zu entfalten.

Ermutigung ist für mich unglaublich wertvoll. Es wurde noch niemand damit «gebessert», dass er darüber aufgeklärt wurde, er sei «schlecht».


Wie Theo Schoenaker in seinem Buch die kreative Partnerschaft schreibt: «Die meisten

Menschen haben als Kind gelernt, dass sie so wie sie sind, nicht gut genug sind. Die

Fehlerbezogenheit unserer Erzieher, unserer Lehrer unserer Ausbildner, unserer Partner und

unsere eigene, liegt an der Wurzel unseres Minderwertigkeitsgefühls. Das, was wir am

meisten brauchen, das Zugehörigkeitsgefühl, geht uns verloren durch das, was wir am

wenigsten brauchen und am meisten bekommen, die Kritik.»


Ich orientiere mich gerne an der Metapher mit dem Loch im Strumpf. Fehler, negatives, oder

störendes Verhalten sind wie ein Loch in einem Strumpf. Löcher kann man nicht stopfen, in

dem man nur das Loch sieht. Man muss sich an dem Vorhandenen orientieren, an dem Stoff

rundherum, an dem Positiven das bereits besteht. Indem man sich an dem Material orientiert, aus welchem der Strumpf gemacht ist, und nicht an dem Loch selbst, kann der Strumpf wieder geflickt werden. Wie bei dem kleinen Kind, dass gerade Schreiben lernt. Noch kein Kind hat seine Schrift mit Freude verbessert, wenn man es aufgeklärt hat, dass sich diese nicht lesen lässt oder nicht schön aussieht. Auch wenn die Schrift eventuell erstmal nicht gut lesbar ist, findet sich bestimmt etwas Schönes daran, was man Ermutigen kann. Und wenn ich schon ein schönes A hinbekomme, dann schaffe ich es bestimmt, auch weitere Buchstaben toll hinzukriegen, bis hin zum ganzen Alphabet.


Mut entsteht aus Deinem Glauben an Deine Fähigkeiten.




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